Interview mit:
Rolf Schüler-Brandenburger, Diplom-Psychologe
Fachbereichsleitung der Kinder- und Jugendhilfe in Trägerschaft der Diakonissen Speyer-Mannheim
Herr Schüler-Brandenburger, für Eltern bedeutet es eine besondere Herausforderung, wenn die Kinder das Haus verlassen. Was können Eltern unternehmen, damit das Loslassen leichter fällt?
Loslassen ist immer eine schmerzhafte Erfahrung, erst recht, wenn wie hier das Ende eines Lebensabschnittes damit verbunden ist. Allerdings sollten wir uns vor Augen führen, dass ein Kind von Geburt an das Bestreben hat, sich fortzubewegen: Es verlässt den mütterlichen Bauchraum, es krabbelt fort, es läuft fort, wenngleich wir es immer wieder holen. Erziehung bedeutet, den Prozess des Loslassens, angepasst an die jeweilige Entwicklungsstufe, zu gestalten und zu begleiten. Der Auszug stellt den vorläufigen Endpunkt dar; die Kinder werden erwachsen und ihren Eltern damit gleichgestellter.
Ausgehend von diesem Verständnis, können wir uns über einen längeren Zeitraum darauf vorbereiten, dass die lieben Kleinen eines Tages flügge werden: Der erste Urlaub ohne Kinder, sobald die Teens das Zeltlager mit den Freunden vorziehen, oder mehr Freiraum an den Wochenenden sind wichtige Meilensteine und Erfahrungen in diesem Prozess. Darüber hinaus empfehle ich allen Eltern, offen in der Familie über die neuen Rahmenbedingungen zu sprechen, über Ängste, Erwartungen und ganz konkret auch über Gestaltungsspielräume für die Zeit nach dem Auszug.
Die erste eigene Bude: für viele Jugendliche ein entscheidender Schritt in die Selbständigkeit. Wie wichtig ist diese Erfahrung?
Für einen gesunden Reifeprozess ist nicht ausschlaggebend, mit welchem Alter ein Kind das Elternhaus verlässt bzw. ob es zunächst alleine lebt oder unmittelbar in einer Partnerschaft. Diesbezüglich unterscheiden wir emotionale, organisatorische und objektive Selbständigkeit. Auch Kinder, die zum Beispiel in der Ferne leben und augenscheinlich eine hohe organisatorische Eigenständigkeit aufweisen, können sehr wohl oder gerade emotional unselbständig sein. Jugendliche müssen nicht alleine leben, um selbständig zu werden. Wir können nicht sagen, so sollte der Prozess der Loslösung ablaufen und nicht anders. Lediglich haben Eltern heute oft den Wunsch nach Normen oder festen Orientierungsgrößen in der Erziehung, was auf eine zunehmende Unsicherheit infolge aufgeweichter Erziehungsmuster oder Rollenbilder zurückzuführen ist. Ich formuliere es wie folgt: Die Erfahrung, Herr seiner eigenen vier Wände zu sein, birgt eine wichtige Chance zur Entwicklung eigener Positionen im Leben und zu mehr Zufriedenheit.
Wie können Eltern und Kinder das Familienleben in der neuen Wohnsituation bestmöglich gestalten?
Wie häufig im Zusammenleben, können auch in dieser Situation Rituale hilfreich sein. Wenn ein Kind zum Beispiel weiter im Nahbereich lebt, bieten sich regelmäßige, feststehende Termine an, zu denen sich die Familie trifft, beispielsweise das gemeinsame Mittagessen am Sonntag oder die Tennis-Partie jeden Dienstag. Rituale können sich auch mit der Zeit ergeben bzw. herauskristallisieren. Darüber hinaus steht natürlich weiter Freiraum für gemeinsame Unternehmungen zur Verfügung. Auch der regelmäßige Kontakt mit Kindern, die es in die Ferne zieht, ist heute dank der neuen Medien vergleichsweise gut handhabbar: per E-Mail, Telefon, Chat, Skype u.v.m.
Die Beziehung zu den Kindern ist nur ein Aspekt. Inwiefern ändert sich der Alltag noch, wenn die Kinder nicht mehr unter dem gemeinsamen Dach weilen?
Mit Auszug der Kinder müssen wir unseren Alltag, unsere Gewohnheiten wie auch unser Selbst- und Paarverständnis überdenken und neu definieren. Wir treten als Paar wie als Einzelperson wieder stärker in den Vordergrund. Auf diesen Ebenen kann die sogenannte „Empty-nest“-Situation zu weiteren Veränderungen führen. Paare beispielsweise, die aufgrund eines ausgeprägten Wir-Gefühls wenig Außenkontakte aufgebaut haben, sind in solchen Situationen stärker krisenanfällig als Paare, bei denen das Ich-Bedürfnis dominiert. Allerdings besteht bei letzteren eher die Gefahr des Auseinanderlebens, die bei Auszug der Kinder evident werden kann. Ebenso können wir auf der persönlichen Ebene feststellen, dass uns bestehende Rollenbilder nicht mehr ausfüllen und wir über die auszugsbedingten Neuerungen hinaus den Wunsch nach Veränderung, wie z.B. die Aufnahme einer Arbeit oder die Entwicklung neuer Hobbys oder Kompetenzen.
„Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!“ schreibt Hermann Hesse in seinem Gedicht „Stufen“ – Welche Chancen kann der neue Lebensabschnitt mit sich bringen?
Anknüpfend an die vorherige Frage, kann zum Beispiel die Partnerschaft wieder neu entdeckt werden: Der Raum für gemeinsame Unternehmungen, Hobbys, Reisen etc. wird größer. Selbstverwirklichung ist hier ein wichtiges Stichwort. Dies gilt auch für die berufliche Ebene; je nach Alter können wir zum Beispiel verstärkt in die Karriere investieren oder Perspektiven für den Ruhestand entwickeln. Auch ein möglicher Wiedereinstieg ins Berufsleben oder eine sinnvolle Aufgabenstellung sind wesentliche Fragen, die oft besonders Frauen betreffen, die hauptsächlich für Kinder und Haushalt da waren. Ebenso beobachten wir auf Grundlage von Scheidungsstatistiken aber auch, dass gerade mit dem Erwachsenwerden der Kinder Trennungen initiiert werden und ein neuer Lebensabschnitt mit eigenen Plänen gefüllt wird. Doch unabhängig von der Richtung der Entscheidungen: Grundsätzlich ist vor allem wichtig, dass man die Chancen betont und Pläne für die Zukunft schmiedet.