Expertin vor Ort:
Prof. Dr. med. Annerose Keilmann,
Landesärztin für hör-, stimm- und sprachbehinderte Menschen in Rheinland-Pfalz,
Leiterin des Schwerpunkts Kommunikationsstörungen der Universitätsmedizin Mainz
Das Innenohr ist ein sensibles Organ. Welche Schädigungen und Krankheiten bei Kindern gibt es, die direkt darauf einwirken?
Es gibt eine Reihe von Krankheiten, die während der Schwangerschaft auf das Hörorgan des Kindes schädlich einwirken, beispielsweise Röteln oder der Cytomegalovirus (CMV), eine häufige vorgeburtliche Infektion aus der Herpes-Gruppe. Auch Sauerstoffmangel bei der Geburt, besonders bei Frühgeborenen, wirkt sich ungünstig auf das Innenohr aus. Hirnhaut- und Mittelohrentzündungen sind weitere Ursachen für bleibende Schwerhörigkeit. Darüber hinaus gibt es einige Erkrankungen, die genetisch verursacht sind und oft eine Generation überspringen. Hier ist Früherkennung notwendig. Besonders wichtig ist es aber, von Anfang an genau auf den Schutz seines Gehöres zu achten, denn Lärm macht krank und kann zu massiven Hörschäden führen.
Wird das Thema Lärmschutz zu sehr auf die leichte Schulter genommen? Wie vermittelt man Kindern und Jugendlichen den verantwortungsvollen Umgang mit Lärm und akustischen Reizen?
Wir leben in einer stark auf visuelle Reize ausgerichteten Welt. Jedoch ist es möglich, die Augen zu schließen, um sich solchen Eindrücken zu verschließen. Bei akustischen Reizen funktioniert das nicht. Auf das Ohr einwirkenden Geräuschen kann man sich ohne Hörschutz nicht verweigern. Schallwellen wirken also ungebremst auf das Hörsystem ein. Deswegen ist es ganz besonders wichtige, dem Gehör einen Platz in der Aufklärungsarbeit einzuräumen und Kinder und Jugendliche so früh wie möglich für einen bewussten Umgang mit Lärm zu sensibilisieren. Nehmen Sie sich dabei genügend Zeit für Erklärungen und die Beantwortung aller Fragen. Denn gerade Gefahrenquellen, die nicht so ohne weiteres ersichtlich sind wie nah ans Ohr gehaltenes Kinderspielzeug oder eine lang andauernde Grundbeschallung wie an Straßen oder Baustellen müssen in den Fokus genommen werden. Vermitteln Sie Ihrem Kind: Lärmschutz macht Spaß. Schaffen Sie Inseln der Ruhe, in denen Sie Zeit zum gemeinsamen Lesen und Vorlesen, für Zuwendung und leises Musikhören haben. Damit setzen Sie aktiv auf Entspannung und nehmen den Druck aus dem Tagesablauf.
Wo genau liegen die Gefahren?
Effektiver Hörschutz beginnt mit dem Wissen um resultierende Effekte von Lärm, denn mit einem Lärmanstieg von 10 Dezibel steigt die Wirkung um das Zehnfache; 40 Dezibel sind also bereits um das 10 000fache lauter als 10 Dezibel. Bei Geräuschen zwischen 30 und 50 dB kann bereits der Schlaf gestört und die tägliche Konzentration beeinträchtigt werden, dazu genügt schon der Wecker im Schlafzimmer oder ein Zimmer, das an einer normal befahrenen Straße liegt. Gerade Straßenlärm, der oft permanent im Hintergrund rauscht, führt zu einem erhöhten Herz-Kreislauf-Risiko. Aber auch in Schulen herrschen oft kritische Geräuschkulissen von bis zu 100 Dezibel, die tatsächlich bei andauernder Einwirkung zu Schwerhörigkeit führen können. Ab 120 dB sind bereits bei einmaliger Einwirkung irreparable Schäden möglich. Der Spaß, einen Luftballon nahe an jemandes Ohr platzen zu lassen, kann daher böse enden.
Welche Lärmquellen sind am häufigsten und wie kann man Schädigungen am besten vorbeugen?
In der Umwelt gibt es verschiedene relevante Lärmquellen, hier sind Umweltlärm und Freizeitlärm zu unterscheiden. Bei letzterem geht Lärm vor allem von elektrischen Geräten aus wie von MP3-Playern, Musikanlagen oder bei Konzerten. Problematisch sind auch der Diskothekenbesuch und eine zu laute Rundum-Beschallung in Kinos. Denn Lärm löst Stress und Erschöpfung aus und macht krank. Auch bei einer nur kurzfristigen Beschallung über der Schmerzgrenze von 120 Dezibel können permanente Schädigungen auftreten. Der beste Schutz sind spezielle an den Gehörgang angepasste Ohrstöpsel vom Hörgeräteakustiker, aber es gibt auch preisgünstigere Gehörschutzstöpsel, die einen wirksamen Schutz bieten. Bei Konzerten sollten Ihre Kinder nach Möglichkeit immer ein Paar Ohrenstöpsel dabei haben. Bei Diskobesuchen sollte man vermeiden, direkt vor den Boxen zu stehen. Musik darf nicht permanent zu laut gehört werden. Gerade bei den mobilen Abspielgeräten ist die Versuchung groß, die Musik lauter aufzudrehen, um die zahlreichen Geräusche der Umgebung zu überdecken. Inzwischen gibt es aber Anbieter, die ihre Geräte auf eine maximale Lautstärke begrenzen, die gesundheitlich vertretbar ist. In Bezug auf Umwelt- und Straßenlärm sollte unbedingt darauf geachtet werden, dass im Bedarfsfall Lärmschutzfenster installiert sind. Am besten meiden Sie generell laute Zonen.
Nun ist es vielleicht doch dazu gekommen und ein Verdacht auf Schwerhörigkeit ist gestellt. An wen wendet man sich am besten?
Erste Anlaufstellen sind der Hausarzt und der HNO-Arzt, der eine umfassende Hörprüfung durchführt und erste Untersuchungen anstellen kann. Falls notwendig, kann von dort aus zu den weiterbehandelnden Fachkliniken überwiesen werden.
Mit welchen Spät- oder Dauerschäden ist zu rechnen und welche Behandlungsformen gibt es?
Wichtig zu wissen ist, dass ein einmal entstandener Schaden im Ohr nicht mehr rückgängig zu machen ist. Das Hörsystem ist da sehr empfindlich und kann einen einmal entstandenen Schaden nicht ausgleichen. Eine ärztlich-therapeutische Behandlung erfolgt in Abhängigkeit vom Schweregrad und der genauen Ursache der Schwerhörigkeit. Ab einer mittleren Schwerhörigkeit sind Hörgeräte notwendig oder, bei ausgeprägten Hörstörungen, ein Cochlea-Implantat (CI). Solche Implantate werden operativ in das Innenohr eingeführt und ersetzen dessen Funktion, also die Umwandlung von Schall in elektrische Impulse. Kein Ersatz aber kann ein gut funktionierendes Gehör ersetzen. Denn durch Lärm kommt es meist zu Störungen in den mittleren Tonlagen, zwischen 2000 und 3000 Hertz, also in einem Bereich, der für unsere tägliche und soziale Kommunikation unabdingbar ist. Wenn eine solche Hörschädigung zu früh auftritt und nicht rechtzeitig erkannt wird, können sogar Schwierigkeiten im Spracherwerb oder der psychischen und persönlichen Entwicklung auftreten. Menschen mit Schwerhörigkeit hören die „Untertöne“ sozialer Kommunikation nicht mehr und sind daher oft schüchtern und verunsichert oder misstrauisch, weil sie glauben, es würde über sie gesprochen. Depressionen und deren körperliche Begleiterscheinungen können die Folge sein: Ein weiterer wichtiger Grund, auf seine Ohren acht zu geben und im Bedarfsfall so schnell wie möglich eine Behandlung anzustreben.