Gibt es die berühmte "Trotzphase" eigentlich oder hängt das von der Persönlichkeit eines Kindes ab?
Trotz ist ein Phänomen, das bei vielen Kindern in einem bestimmten Alter auftritt - aber nicht bei allen. Es gibt kritische Phasen in der kindlichen Entwicklung, in der die "Weltsicht" von Erwachsenen und Kindern stark auseinandergeht. Wenn Eltern dann sehr in ihrer Sicht verhaftet bleiben und Kinder sich missverstanden fühlen, trotzen sie. Trotzanfälle hängen also vor allem von der Reaktion der Erwachsenen ab - und nicht vom Charakter des Kindes. In bestimmten Kulturen und Sozialisationsmustern tritt Trotz kaum auf, während die Phase unter bestimmten Erziehungsbedingungen sehr stark und lang anhaltend sein kann.
Eine Trotzphase ist also für die Entwicklung nicht wichtig ...
Trotz ist genauso wenig notwendig oder gesund für die Entwicklung wie Schreien bei Babys - es ist aber auch nicht unbedingt dramatisch. Jedes Kind macht die Erfahrung, dass seine Wünsche nicht immer umsetzbar sind - dann tritt Frustration auf. Der Erregungszustand kann so heftig werden, dass das Kind den Bezug zur Umwelt verliert und da selbst nicht mehr rauskommt. Ob es aber soweit kommt, hängt - wie gesagt - meist davon ab, wie die Eltern oder das Umfeld auf die Frustration des Kindes reagieren.
In welchem Alter tritt das Phänomen vor allem auf und warum?
Trotz kann in jedem Lebensalter auftreten, meistens aber gehäuft im 2. bis zur Mitte des 3. Lebensjahres. Das ist der Zeitraum, in dem sich die Bedürfnisse von Kindern stabilisieren und differenzieren, sie nach Autonomie und Selbstständigkeit streben und das Interesse an der Außenwelt zunimmt. Gleichzeitig ist das Kind aber noch nicht in der Lage Begrenzungen und Forderungen des Umfeldes zu verstehen oder die Situation aus der Perspektive einer anderen Person zu betrachten. Dadurch erlebt das Kind immer wieder den Widerspruch zwischen Wunsch und Wirklichkeit. Ein schönes Beispiel dafür ist - ich habe das selbst erlebt: Ein Kind stampft auf den Boden und sagt: "Ich will nicht, dass die Sonne untergeht."
Wie reagiere ich am besten auf den Trotzanfall meines Kindes?
Möglichst gelassen bleiben, also einen Gegensatz zur Erregung des Kindes schaffen, und ihm helfen, sich wieder zu beruhigen. Eltern sollten sich bemühen zu verstehen, warum das Kind so heftig reagiert und ihm erklären, dass sie seine Bedürfnisse und seinen Ärger nachvollziehen können, es aber aus bestimmten Gründen nicht möglich ist, seinen Wunsch zu erfüllen. Hilfreich ist auch dem Kind eine Brücke zu bauen, in dem man beispielsweise anbietet: "Das geht jetzt nicht, aber nach dem Essen." Oder die Aufmerksamkeit auf etwas anderes lenken und Alternativen anbieten, denn wenn etwas frustrierend ist, bleibt das meist auch so. Wichtig ist, Regeln zu setzen und dem Kind gleichzeitig zu zeigen: Das ist kein Problem zwischen uns, sondern ein Sachzwang.
Die Lösung ist also nicht, dem Kind immer seinen Willen zu lassen?
Es wäre fatal, wenn ein Kind seinen Willen immer durchsetzen würde. Manches ist ja auch aufgrund objektiver Gefährdungen nicht umsetzbar. Grenzen und Frustrationen zu erleben gehört zu einer realistischen Welterfahrung und ist wichtig, um emotionale Stabilität zu entwickeln. Grenzen sind auch etwas, woran man sich anlehnen kann - ein Nest braucht einen Rand, damit man nicht rausfallen kann.
Wenn Eltern den Wutausbrüchen ihres Kindes immer nachgeben, dann lernt es ein hochwirksames Mittel, den eigenen Willen durchzusetzen - aber nicht in der Welt zurecht zu kommen. Es entwickelt ein verzerrtes Weltbild und glaubt, für die eigene Frustration seien grundsätzlich andere verantwortlich. Es wird Frustration dann immer zu einem Beziehungsproblem machen.
Wenn Trotzreaktionen aber sehr häufig auftreten, sollten Eltern durchaus auch mal die eigenen Vorstellungen reflektieren und sich fragen, welche Grenzen sie ihrem Kind warum setzen und ob diese unbedingt nötig sind.
Sie haben ja schon mehrfach darauf hingewiesen, dass Eltern Trotzanfälle auch verstärken können ...
Ja, wenn sie selbst sehr erregt reagieren. Das ist zwar ein - oft verständliches - Ventil, bringt aber nichts. Im Gegenteil: Eltern und Kind können sich dann regelrecht ineinander "verbeißen". Eltern sollten auch auf keinen Fall moralisieren und Dinge sagen wie: "Immer gibt es diese Probleme mit dir" oder: "Du willst uns wohl tyrannisieren."
Grundsätzlich kann man sagen: Je restriktiver sich Eltern verhalten und je weniger Verständnis sie für die Bedürfnisse des Kindes haben, desto häufiger wird es trotzen. Wenn Eltern immer sehr rigide eigene Vorstellungen durchsetzen und die Aktivität des Kindes ständig drosseln, kann das sein Selbstständigkeitsstreben und Neugierverhalten beeinträchtigen - und sogar das Spielverhalten und die Leistungen hemmen.
Nach einem heftigen Wutanfall sind Kinder oft sehr anschmiegsam ...
Kleine Kinder können solch einen emotionalen Ausbruch ja noch nicht einordnen, deshalb sind sie verunsichert und suchen dann Halt. Emotional gehalten zu werden - also das Kind wirklich umarmen und festhalten, so dass es Rückhalt und Geborgenheit erlebt, hilft am allermeisten mit Frustrationen zurecht zu kommen. Diese Beziehungskomponente ist wirklich Weichen stellend: Wenn ein Kind emotionalen Halt erlebt, kann es Belastungen gut verkraften - und sie können sogar eine wertvolle Erfahrungen sein. Leider ist es oft aber umgekehrt und Eltern reagieren auf Wutanfälle ihres Kindes mit Abwertung oder Liebesentzug. Das ist eine ganz bedrohliche Erfahrung für ein Kind, weil es sich von seinen Eltern dann verlassen fühlt.
Eltern sollten auch nicht im Nachhinein, wenn sie das Kind im Arm halten, auf dem Trotzanfall rumreiten und sagen: "Das darf jetzt aber nicht mehr vorkommen." Je weniger das thematisiert wird, desto weniger Bedeutung hat es.
Verfasser: Alfred Kappauf ist Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeut und Präsident der Psychotherapeutenkammer Rheinland-Pfalz.