Die große Mehrzahl der Menschen damals war unfrei, ein Verhältnis, in das wir uns heute kaum hineindenken können. Unfreiheit bedeutete, mit Leib und Leben einem freien oder adligen Herrn zu gehören, der seine Untertanen verkaufen oder tauschen konnte und zu allem seine Zustimmung geben mußte: zum Bau von Häusern, zum Heiraten und zu fast allen Rechtsgeschäften, die getätigt wurden. Freizügigkeit gab es nicht: jeder war an das Stück Land gebunden, das er oder sie bewirtschaftete oder an den Dienst, den er verrichtete. Sicher war damit auch viel Willkür und Unterdrückung verbunden, aber wir dürfen uns dieses Verhältnis trotzdem nicht wie Sklaverei vorstellen. Zudem gab es, was Strenge und Ausprägung der Herrschaft und die Möglichkeiten, sich ihr zu entziehen betrifft, sehr große regionale Unterschiede. Jeder Herr war zunächst daran interessiert, daß seine Leute oder Leibeigenen das Land gut bewirtschafteten, um sich und ihn ernähren zu können. Dafür waren auch seine Pflichten genau umrissen: er bot seinen Untertanen Schutz und war Gerichtsherr in ihren Streitigkeiten. Darüber hinaus wußten diese durch mündliche Überlieferung sehr gut über ihre eigenen Rechte Bescheid und wurden z.B. auch bei Grenzstreitigkeiten zwischen adeligen Herren als Zeugen herangezogen. Wenn einer von diesen den Bogen überspannte, kam es nicht selten zu Unruhen unter der abhängigen Bevölkerung oder die Leute wanderten heimlich in andere Herrschaftsgebiete ab. Das Untertanenverhältnis war durchaus ein Verhältnis auf Gegenseitigkeit. Es gab die Möglichkeit, sich aus der Leibeigenschaft loszukaufen und in andere Herrschaftsgebiete zu ziehen oder sich zu verheiraten, um sich neuen Herren zu unterstellen. Viele entzogen sich auch einfach durch Flucht und wurden in anderen Gebieten, wo es vielleicht an Arbeitskräften oder Bauern fehlte, mit offenen Armen aufgenommen. In einer Zeit, wo es viele kleine und große Herren, aber keine systematische Registrierung und natürlich keine Pässe gab, war die Identität einzelner kaum zu überprüfen. Vor allem in Kriegen oder nach Hungersnöten kam es zu größeren Wanderungen, jedoch blieben die Leute in der Regel, wenn sie ihr Auskommen hatten, auf ihren Gütern, die sie zum Teil schon seit Generationen bewirtschafteten und die in einem langsamen Prozeß in Erbpacht und schließlich vielleicht sogar in ihr Eigentum übergingen. Dazu gehörte auch, daß immer mehr Naturalabgaben oder Frondienste in Geldsteuern umgewandelt wurden, auch wenn erstere nie ganz verschwanden und manchmal, in unsicheren Zeiten, sogar wieder zunahmen.
Diese Sozialstruktur, die Ständegesellschaft, die jedem von Geburt an seinen genauen Platz in der Hierarchie zuwies, wurde von den Menschen des Mittelalters nicht in Frage gestellt, im Gegenteil: sie galt ihnen als Teil einer von Gott gegebenen Ordnung, an deren Spitze der König oder Kaiser stand, der bei seiner Krönung den besonderen Segen der Kirche empfing und ihr oberster Schutzherr war.
Aus seinen Unfreien, Hörigen oder Leibeigenen rekrutierte ein Herr auch seine Dienstmannen oder Ministerialen, die seine Güter verwalteten, seine Burgen und Wohnsitze bewachten, mit Boten- oder Sonderdiensten beauftragt wurden. Je größer und bedeutender der Dienstherr und je fähiger und geschickter der Einzelne war, desto größer waren in diesem an und für sich starren, ständischen System aber auch seine Aufstiegschancen: viele dieser Dienstmannen oder Minsterialen legten ihre ursprüngliche Unfreiheit ab und stiegen in den Stand der Freien und in den Niederadel auf, wo sie Macht und Wohlstand erwerben konnten. Eins der besten Beispiele dafür sind die ursprünglich unfreien Bolander, die als Reichsministerialen einen rasanten Aufstieg bis in den Adelsstand erlebten und viel Besitz und Einfluß erwarben. Sie sind auch als erste gesicherte Grundherren von Weisel, Dörscheid und Kaub bezeugt.
Wenn sich also die Rheingauer Adligen und mit ihnen andere ursprünglich edelfreie Familien freiwillig in ein Dienstverhältnis begaben, das eigentlich von Unfreien ausgefüllt wurde, zeigt das, daß sie die Macht und Einflußmöglichkeiten als Diener eines großen Herrn, in dem Fall des Mainzer Erzbischofs, der eine bedeutende Rolle in der Reichspolitik spielte, mehr schätzten als eine Machtpolitik auf eigene Faust mit ihren bescheidenen Möglichkeiten.
© Dr. Margit Goettert in Zusammenarbeit mit Gerhard Friese 24.03.2002